Hanni Rützler ist Ernährungswissenschaftlerin und Foodtrend-Forscherin – als Autorin des jährlich erscheinenden Food Reports erforscht sie die wichtigsten Trends und Entwicklungen aus der Lebensmittelbranche. Im Interview für massvoll-geniessen.de erklärt Hanni Rützler welche Trends im Bereich der alkoholhaltigen Getränke zu beobachten sind und warum es aus ihrer Sicht beim Thema Genuss wichtig sei, auch beim Maßhalten nicht maßlos zu sein.
Hat der Genuss von alkoholhaltigen Getränken und hochprozentigen Spirituosen überhaupt eine Zukunft in Zeiten von Sober Curious und wie wird diese aussehen?
Auf der einen Seite befinden sich alkoholfreie Getränke auf dem Vormarsch, ein Trend, der vor allem von jüngeren Generationen vorangetrieben wird; auf der anderen Seite sehe ich, wie sich bei den alkoholhaltigen Getränken, ähnlich wie beim Essen, eine immer stärkere Connaisseur-Kultur vertieft. Zudem werden Essen und Trinken immer mehr als Ausdruck der Individualität verstanden. Der Connaisseur probiert, lernt zu vergleichen und bewusster zu schmecken.
Probierboxen mit alkoholhaltigen Getränken liegen voll im Trend. Können Probierboxen, die viele verschiedene Produkte eben nur zum Probieren beinhalten, dabei helfen, den eigenen Geschmack zu schulen?
Was die Probierboxen angeht, können diese durchaus helfen, die eigenen Geschmacksvorlieben weiterzuentwickeln. Wir widmen beim Probieren unsere fokussierte Aufmerksamkeit dem Getränk. Meist werden dabei Informationen mitgeliefert, die Geschmackserwartungen wecken: wenn die Beschreibungen gut sind, sind diese ein hilfreiches Tool, um den Geschmack eines Weines oder einer Spirituose besser wahrzunehmen und – wie auch immer ganz individuelle Bewertungen vorzunehmen.
Als einen Trend machen Sie auch das Bedürfnis nach Nähe zum Produkt, zum Produzenten aus. Heißt das, dass die Craft-Story noch nicht zu Ende ist und kleine Brennereien immer noch eine Chance am Markt haben?
Ich sehe keinen Grund dafür, warum die enorme Diversifikation im Getränkebereich aufhören soll. Es entstehen spannende neue Geschmackswelten und der aktive Austausch zwischen Produzenten und Konsumenten dynamisiert diese Entwicklung. Ein gutes Beispiel hierfür ist Gin. Neue Geschmackswelten brechen mit Traditionen.
Sie beschreiben Gesundheit als einen der weltweit wirksamsten Megatrends. Zum langen beschwerdefreien guten Leben soll aber auch der Genuss gehören. Wie schwer sind in Bezug auf alkoholhaltige Getränke Genuss und Gesundheit zu vereinen? Ist das Maßhalten am Ende die Rettung für den Genuss von alkoholhaltigen Getränken?
Der Begriff des „Maßhaltens“ ist für mich typisch für unseren Kulturraum. Er beschreibt die Ambivalenz: Man will genießen, man hat aber Angst, dass man das Maß verliert. Diese Haltung widerspricht dem Geist des Genusses. Man soll, wie es der österreichische Philosoph Robert Pfaller einmal treffend gesagt hat, auch beim Maßhalten nicht maßlos sein. Ist das Trinken von Alkohol in die Genusskultur eingebunden, wie etwa in Italien, dann stellt sich meist die Frage nach Maßhalten gar nicht. Anders etwa in Schweden, wo das nicht der Fall ist, wo mit Alkohol im Alltag restriktiv umgegangen wird, bei bestimmten Gelegenheiten dann aber exzessiv getrunken wird.
Wieso stellen wir viele Nahrungsmittel mit einem Anteil an Fett, Zucker, Glutamat oder auch Alkohol heute – wie Sie sagen – unter Generalverdacht? Wieso sehen wir hinter so vielen Nahrungs- und auch Genussmitteln nur noch das Problem und weniger den Genuss bzw. den Luxus, dass sie verfügbar sind?
Einerseits verändert sich das Verständnis von gesunder Ernährung immer wieder. Dabei greifen wir auf die Erfahrungen und Geschichten aus der Familie, dem Freundeskreis oder des zuletzt gelesenen Buches zurück. Jeder bastelt sich heute seine eigene Gesundheitsphilosophie zusammen. Früher war es der Arzt und heute ist es vielleicht der Blogger, dem Expertise zum Thema zugetraut wird. Zugleich neigen wir dazu, schnell Schuldige auszumachen, die uns daran hindern, uns gesund zu ernähren oder machen das Ungesunde an einzelnen Inhaltstoffen fest. Dabei hat schon Paracelsus richtig gesagt, dass es die Dosis sei, die das Gift macht. Heute spielen auch moralische Überlegungen eine immer wichtigere Rolle: Denn es geht nicht mehr nur um die individuelle Gesundheit, sondern auch um die „Gesundheit des Planeten“. Die dazu geführten Debatten sind wichtig, wenn oft auch in hohem Maße ideologisch überfrachtet.
Können uns Krisen wie bspw. die Coronakrise dabei helfen, wieder bewusster zu genießen?
Corona hat bei rund zwei Drittel der Bevölkerung zu einer partiellen Entschleunigung im Alltag geführt. In dieser Zeit wurde wieder mehr zu Hause gekocht und gebacken – gemeinsame Mahlzeiten haben in Zeiten der Lockdowns für viele den Alltag strukturiert und auch zu einer bewussteren Wahrnehmung von Lebensmitteln, Speisen und Getränken geführt.
Was sind Ihre ganz persönlichen kleinen täglichen Genussinseln?
Ich mag den Begriff der Genussinseln eigentlich nicht, da dieser voraussetzt, dass man Genuss eingrenzen muss. Für mich ist Genuss, wenn ich morgens nach dem Aufstehen erst mal in Ruhe einen Tee trinke und nicht gleich in den Funktionsmodus wechsele. Gutes Essen ist für mich ebenso wichtig. An meinem Esstempo kann ich mein Stresslevel ablesen. Wenn ich merke, dass ich zu schnell, also auch nicht genussfokussiert esse, versuche ich bewusst gegenzusteuern und meine Aufmerksamkeit wieder den Speisen und Getränken zu widmen. Das entspannt mich - und so kann ich sie auch genießen.
Vielen Dank für das Gespräch